«Die Kleinsten sollen die Welt ohne gesellschaftliche Zwänge entdecken dürfen»

Sandrine Bavaud koordiniert die Lapurla-Arbeitsgruppe in der französischsprachigen Schweiz. Im Interview gibt sie Einblicke in die Lapurla-Welten in der Romandie.

Warum setzen Sie sich für die Entwicklung der Initiative Lapurla ein?

Sandrine Bavaud: Die Transdisziplinarität spielt eine wesentliche Rolle, wenn es darum geht, Kinder auf die Welt neugierig zu machen und sie erobern zu lassen. Das Netzwerk Lapurla macht sichtbar, wie wichtig es ist, bereits ab der Geburt in die Kinderförderung und ‑betreuung zu investieren. Vor diesem Hintergrund unternimmt Pro Enfance konkrete Schritte, um die Westschweiz an der Initiative «Lapurla – Kinder folgen ihrer Neugier» zu beteiligen und das nationale Netzwerk zu stärken.

Warum braucht es eine starke Bewegung Lapurla in der Westschweiz?

Lapurla will den Blick auf die Kreativität von Kindern im Alter von 0 bis 4 Jahren bereichern. Sie soll dabei als bereichsübergreifende Kompetenz zur Problemlösung betrachtet werden und nicht als die Fähigkeit, Gegenstände zu produzieren, die den Kriterien der Erwachsenen entsprechen. Ausserdem soll die Zusammenarbeit von Fachleuten der frühen Kindheit, Kunstschaffenden und Kulturinstitutionen angeregt werden, um diesen Erziehungsbereich zu fördern. Die Westschweiz spielt beim Austausch von Fachwissen auf diesem Gebiet sicher eine Rolle. Eine Westschweizer Bewegung sollte sich allerdings nicht von einer starken nationalen Bewegung Lapurla abkoppeln, die über Einzelinitiativen hinausgehen will. Aus diesem Grund ist eine kohärente Politik der Kindheit, einschliesslich einer inklusiven Kinderbetreuungspolitik, unabdingbar. Lapurla stellt die Weichen dafür und die Bewegung trägt dazu bei, die Praktiken und die Herausforderungen aufzuzeigen.

Was haben Sie bisher erreicht?

2019 hat Pro Enfance die Fokuspublikation «Ästhetische Bildung & Kulturelle Teilhabe – von Anfang an!» (Kraus, Ferretti) übersetzt, die eine gemeinsame nationale Grundlage darstellt. Anstelle einer Vernissage wurde eine Weiterbildung im Musée de la Main UNIL-CHUV in Lausanne angeboten. Die Publikation sowie die illustrierte Broschüre «Kreativer von Anfang an» (Lapurla, 2021) wurden an mehreren Gelegenheiten verteilt. Später wurde noch ein Dokument mit 16 Beispielen für Praktiken im Bereich der ästhetischen Bildung für Kinder im Alter von 0 bis 4 Jahren erarbeitet. 2021 wurde im Rahmen der «Nocturnes de l’éveil culturel dès la naissance», die von der Stadt Genf in Zusammenarbeit mit der Maison de la créativité initiiert waren, eine Diskussionsrunde veranstaltet. Im Sinne eines Multiplikationseffekts hat Pro Enfance im Rahmen der Tagung 2021 des Genfer Vereins Formation Continue Petite Enfance (FOCPE) zudem einen Vortrag gehalten. Unsere Plattform hat auch an den nationalen Netzwerkanlässen von Lapurla teilgenommen und vier Pilotprojekte ausgewählt, die in drei Kantonen (Genf, Waadt und Wallis) durchgeführt wurden. Die Westschweizer Arbeitsgruppe Lapurla hat ausserdem Empfehlungen ausgearbeitet, wie die Bewegung in ihrem Fortbestand unterstützt und in verschiedenen Kreisen aufgegriffen werden kann. An den Hochschulen sensibilisiert sie Fachleute.

In welche Richtung soll es weitergehen?

Es ist wichtig, die Erfahrungen und Kompetenzen an die Westschweizer Kantone weiterzugeben, um immer mehr Kinder, ihre Familien und die Gesellschaft zu erreichen. Darum will Pro Enfance die Konzeption von Ausbildungen für Fachleute der frühen Kindheit sowie Kunst- und Kulturschaffende weiter vorantreiben. Ausserdem soll ein schweizweiter Austausch beibehalten werden, da er einen Gewinn für alle Sprachregionen darstellt. Indem wir von anderen und ihren Praktiken lernen, können wir uns weiterentwickeln und unsere Sichtweisen und Verhaltensweisen im Umgang mit der Kindheit verändern. Die Vernetzung in der Westschweiz durch Kommunikation und die Organisation von Veranstaltungen sind ebenfalls nützliche Mittel, um den Geist von Lapurla zu etablieren. Und auch die Westschweizer Arbeitsgruppe spielt eine entscheidende Rolle, genauso wie der politische Wille und die finanziellen Ressourcen.

Was interessiert Sie persönlich am meisten an der Arbeit mit Lapurla?

Die Begeisterung der Mitglieder des Netzwerks Lapurla ist ansteckend; sie weckt die Sinne und gibt einem Raum zum Atmen. Entscheidend ist in jedem Fall, die Kinder in den Mittelpunkt der Überlegungen und Aktionen zu stellen. Die Kleinsten müssen sich in ihrem eigenen Tempo entwickeln und die Welt ohne gesellschaftliche Zwänge entdecken, mit kleinen Dingen, die sie zum Staunen bringen und ein Leben lang sinnstiftend sein können.

Wo und in welcher Form leben Sie selbst kreative Freiheit aus?

Als Generalsekretärin einer Westschweizer Plattform für Kinderbetreuung muss ich, abgesehen von den monotonen Verwaltungsaufgaben, immer kreativ sein. Die Schönheit der Natur, das Lachen von Kindern, Tischgespräche, Lesen, Museen, Paradoxe, Gegensätze, Zweifel – mich inspiriert vieles! Und mit Stiften, Farbe, Papier und Schere schaffe ich Werke, auf die ich stolz bin.